Die schöne Seite | Sabine Müller

Kunsthaus Wiesbaden, 2007 | Translation by Victoria Bell

Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sich Ines Hock mit der Farbe. Anders als andere sogenannten Farbmaler hat sie sich dabei nie einem bestimmten Stil verschrieben: weder wird eine bestimmte Farbe bevorzugt, noch eine bestimmte Technik. Veränderungen, Brüche kennzeichnen ihr Werk geradezu, und bei jeder Ausstellung darf man gespannt sein, welche Richtung sie jetzt wohl eingeschlagen hat. Auch bei dieser Wandarbeit ist wieder etwas ganz Neues entstanden, das sich von ihren bisherigen Wandarbeiten stark unterscheidet. Es stellt sich die Frage, welche grundsätzliche Intention wird hier verfolgt?

Gehen wir zunächst von den hier offensichtlichen Fakten aus. Obwohl die Malerei sehr locker und spontan wirkt, liegt der Vorgehensweise ein strenges Konzept zugrunde. Ines Hock geht zunächst von den räumlichen Gegebenheiten aus. Die Längsseiten des Raumes betragen 18 m, die Querseiten 9 m. Bis zur Höhe der Deckenabhängung sind es ungefähr 4,5 m. Der Raum ist also doppelt so lang wie breit und halb so hoch wie breit. Aus diesem besonderen proportionalen Verhältnis heraus resultiert die Entscheidung, dem Raum an einer Schmalseite eine Hervorhebung, eine „Schöne Seite“ einzupassen, die mit ihren breiten Querstreifen eine optische Dehnung des Raumes in der Querachse bewirkt. Die gewählte Breite der Streifen ist von außerordentlicher Bedeutung. Sie bringt in den Raum eine neue Maßstäblichkeit, dergegenüber die menschlichen Proportionen zusammenschrumpfen. Man hat den Eindruck einer Mauer, die aus sehr großen Steinen zusammengefügt wurde. Die Streifen sind so angelegt, dass sie mit einem großen Flachpinsel gerade noch in einem Pinselzug gezogen werden können. Die Arbeit mit einem solchen Pinsel läuft nicht glatt von der Hand; man ist auf die Dauer schon genötigt, ihn mit beiden Händen über die Fläche zu ziehen. Vor allem wenn man darauf achtet, dass das Weiß der Wand zwar vollständig bedeckt ist, aber noch durchscheint, d.h. die Farbe in einem flüssigen Verfahren, schnell und alla prima aufgetragen werden soll.

Obwohl die Malerei so lapidar und einfach erscheint, handelt es sich also in Wirklichkeit um ein schwieriges Unterfangen. Neben dem Kraftaufwand beim Malen selbst ist einiger Aufwand nötig, um die doch sehr große Wand in den Griff zu bekommen: Es muss von einem Gerüst aus gearbeitet werden, das immer wieder verschoben werden muss, d.h. die Künstlerin kann immer nur ein kurzes Stück des Farbstreifens ausführen, muss dann wieder vom Gerüst klettern, um es ein Stück weiter zu schieben, dann wieder hochklettern usf. Das alles sieht man dieser „schönen Seite“, die licht und heiter über dem Boden zu schweben scheint, überhaupt nicht an.

Die Wandmalerei wirkt so leicht und aus dem Handgelenk heraus entstanden wie ein überdimensioniertes Aquarell auf Papier. Wohlgemerkt, es geht nicht um eine Übertragung eines kleinen Aquarells auf die Wand, z.B. mit Hilfe einer Projektion oder mit Hilfe eines Rasters. Solche Übertragungspraktiken wurden in der Geschichte der Wandmalerei selbstverständlich eingesetzt, wobei die eigentliche künstlerische Arbeit dann tatsächlich im Entwurf zu sehen wäre und die Übertragung auf die Wand, wie es z.B. Sol LeWitt praktizierte, auch Assistenten überlassen werden könnte. Aber im Gegensatz zu einer konstruktiven Malerei kann man ein Aquarell nicht vergrößern. Man kann die lockeren Verläufe, die mit dem Anteil des wässrigen Bindemittels variierenden Farbabstufungen, das Weiß des Bildträgers nicht nachmalen. Bei einem Aquarell verdanken sich die entscheidenden Faktoren, die Farbmischungen, der Duktus, die malerische Handschrift dem unmittelbaren Zugriff.

An diesem Punkt kommen zwei prägnante Wesenszüge der Arbeit von Ines Hock zur Geltung. Die Einstellung zur Farbe als ein offenes und idealerweise offen zu belassenes Medium auf der einen Seite und, damit einhergehend, das Verhältnis der Malerei zur Wand andererseits. Auch und gerade im Umgang mit ihren Tafelbildern war für Ines Hock die Platzierung im Raum immer entscheidend. Malerei scheint für sie etwas zu sein, das in erster Linie mit dem Raum, der Architektur zu tun hat, ja zur Architektur gehört. So haben sich ihre Tafelbilder im Laufe der Zeit immer mehr geöffnet, sind heller und transparenter geworden, und haben sich dadurch mit der Wand und weiter mit dem Raum und dem Raumlicht verbunden. Die Lichtempfindlichkeit erlaubt aber auch der Farbe, ihre ganze Fülle an Schattierungen, Abstufungen, Lichtwerten, ihre besonderen Eigenschaften wie Leuchtkraft oder Mattheit, Glitzern oder erdige Tonigkeit, ihre emotionale Aufladung ins Aggressive, Heitere, Düstere, Abgründige oder Stumpfe, oder auch ihre inhaltliche Konnotation mit Erscheinungen wie Wasser, Himmel, Feuer, Vegetation auszuleben. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Ines Hock immer auch Arbeitsproben auf Papier herstellte, um hier das ganze Repertoire der Farbe zu erproben. Der Grad der Entfaltung der Farbe macht aber nicht an den Rändern des Tafelbildes Halt; gerade die Platzierung auf der Wand und darüber hinaus im Raum entscheiden darüber, inwiefern sich die Farbe im Raum Geltung verschaffen kann oder im Gegenteil, von ihm zurückgedrängt wird. Von hier aus ist es ein kleiner Schritt zur Malerei im Raum. Auch dieser Wandarbeit waren intensive Studien auf Papier vorausgegangen. Die Erfahrungen aus der Aquarellmalerei auf Papier, auch in Bezug auf die bildkonstituierende Bedeutung des weißen Trägers, wurden in einem konzeptuellen, auf die Architektur bezogenen Rahmen auf die Wand übertragen.

Erstaunlicher ist vielleicht, dass sich Ines Hock auch, und in letzter Zeit vermehrt, mit der Zeichnung beschäftigt hat. Bleistiftzeichnungen auf Papier kommen ganz ohne Farbe aus. Ihr Studium bringt aber Aufschluss über das Verhältnis von Hell-/Dunkel-Werten, von Zonen des Lichts, die in der relativ homogen-tonigen Struktur der Zeichnung aufblitzen. Ines Hock selbst nennt diese Zonen „Lichtfenster“. Diese Lichtfenster sind auch kennzeichnend für ihre Malerei. Hier im Kunsthaus sorgen sie für ein Flackern, das das Gleichmaß der Streifen durchbricht und die wie gebaut aufeinandergefügte Lagerung in eine räumliche Tiefe öffnet.

Damit sind wir wieder beim Weiß der Wand, das durch die Malerei hindurchscheint. Durch die offene, flüssige Malweise wird das Licht in die Malerei geleitet, doch kommt der Träger, die Wand, nicht nur als Reflexionsfläche für das Licht zur Geltung, sondern darüber hinaus ganz konkret als farbige und materielle Qualität. Die Wand wird nicht abgedeckt, sondern bleibt als solche wirksam und lässt die Malerei als ein aus ihr hervortretendes, von ihr abhängiges und in Wechselwirkung mit ihr stehendes Bild erscheinen. Insgesamt wird die Malerei von oben nach unten heller, um die nachlassende Intensität des einfallenden Tageslichts auszugleichen.

Bei längerer Betrachtung verliert die Farbintensität in dem Maße an Pointiertheit, in dem die Malerei an Tiefe gewinnt. In einem Kontinuum vor- und zurückweichender Wechsel zwischen unscharfen Farbschleiern und akzentuierenden Pigmentanhäufungen füllt sich die graphische Struktur einer Mauer mit den farbigen Reflexen der Umgebung. Es sind die Farben des Frühlings, aber genau genommen sind es die Farben dieses Ortes, dieses Himmels, dieser Vegetation vor den Fenstern. Es ist das Rosa dieser Fassade, das Braun-Gold dieses Holzfußbodens. Im Sehen vervollständigen sich Farbwerte und Lichtwerte zu einem schwebenden Volumen im Sinne von „image“ oder Imagination. „Die schöne Seite“ ist der sehr persönliche Ausdruck der Wahrnehmung eines Ortes. Sie bezieht ihre Energien aus dem realen Umraum und seinem Licht. Wie in einem Fokus werden die Qualitäten der Umgebung hier konzentriert und in potenzierter Form wieder an diesen Ort zurückgegeben.