Mit geschlossenen Augen, Nachfarben | Jens Peter Koerver

English Translation by Inge Goodwin

Manchmal schließt er unvermittelt die Augen, bleibt stehen, wendet den Kopf wie jemand der sich umsieht, ist dabei aber mit leicht schräg gelegtem Kopf ein Lauschender, Riechender und immer noch Betrachter, Wahrnehmer. Seine verschobenen Aufmerksamkeiten lassen ihn andere Aspekte, Eigenarten des Ortes, des Moments bemerken. So bereichert er sich sinnlich, die Wirklichkeit wird ihm voller (ohne je ganz oder vollständig zu sein). Mit geschlossenen Augen entsteht eine andere Räumlichkeit, erschließt sich jeder Ort noch einmal, anders, gewinnt eine andere Dimension, nimmt ein neues Maß an. Noch durch die geschlossenen Lider hindurch teilen sich Hell und Dunkel mit: Diffuse Vorstellungen von lichter Weite, Öffnungen, sanftem Aufleuchten, oder durchdringendem, plötzlichem Strahlen oder Verschattungen, allmählichem Lichtabfall, Dunkelheit, immer noch ahnt das Lichtorgan Auge Reste, entsteht ein Raumgefüge aus Vor und Zurückgleitendem, Nähe, Ferne. Anders aber, kanten- und konturlos, ein fließender Raum, Raumfluß.

Schließt er die Augen, werden die Dinge hörbar. All die Nebenbeigeräusche dringen ihm ins Bewußtsein, das kontinuierliche allenfalls an- und abschwellende Hintergrundrauschen des Alltags (des Windes und des Verkehrs auf der Straße, das leise Knacken und Knarren in alten Häusern, manchmal Insekten schwirren, Lautsprechergedudel, das Surren irgendwelcher Lüftungen, Gemurmel und Lachen, das leise, unablässige Fließen der Heizung und andernorts schwappendes Wasser, überhaupt Wasserklänge aller Art …). Alles überhärte oder allenfalls sich für den Moment Einblendende, sonst allenfalls als Störung oder Belästigung bis ans Ohr Vordringende, es ist da. Ist Teil jeder Situation fällt sie fortwährend mit Hörbarem, Geräuschen. Und es ist ihm, als hätte jeder Ort, jeder Raum seinen Klang (und Nachklang) wie er auch eine Temperatur oder eine Beleuchtung hat. Dass es nichts zu vernehmen gibt, hat er selten einmal erlebt. Und die Gerüche, Düfte, flüchtig und unfassbar, auch sie mischen sich ein, ragen vorübergehend ins Gegenwärtige, durchziehen es in unabweisbaren Schwaden oder sind zudringlich, gleichen einem kurzen, irrlichternen Aufleuchten, einem warnenden Stechen oder erreichen ihn als warme, schmeichelnde Wolke. Atmosphären in die er eintaucht, die an ihm voräbergleiten.

Von manchen seiner des Nachts geträumten Träume bleibt zurück: eine Farbe, Farben, farbige Räume, Schichten, Hüllen, Berührungen oder etwas zwischen ihnen; nichts Erzählbares, nichts was er sonst benennen könnte, aber er sieht sie. Diese Farben seiner Träume sind auf ihre Art präzise (Gibt es ungenaue Farben?), auch die seltsamen, seltenen Farben. Manches ist bloß ein Hauch oder ein Schleier, eher Einfärbung als Farbe. Nichts wiederholt sich, alles hat seine eigenen Farben, seine Mischungen, bestimmte Nuancen. Gleichwohl wüßte er nicht zu sagen, ob er Farben träumt oder ob sie das sind, was am Morgen übrig ist.Vielleicht war noch etwas anderes, wenn es so war, sind all diese Einzelheiten verwandelt worden, haben sich verwandelt, er hat es nicht in der Hand. Was Traum war, hat sich gesammelt in, ist kondensiert zu Farben. In diesen Farben, die ihm gegenwärtig sind, mit denen er sich erinnert, ist alles konzentriert, bleibt, was der Traum der Nacht war.

Überhaupt verwandelt sich ihm manchmal Gewesenes in Farben. Seine Erinnerung ist Farbe geworden. Was war und was es jetzt ist, noch ist, sind Farben; Nachfarben nennt er sie für sich. Die halten fest, was war zwischen den Dingen, Menschen, Räumen. Sie entsprechen dem Unsichtbaren, aber doch Merklichen; sie handeln vom Zauber, der plötzlich und unerwartet entsteht, der dazwischen kommt. Präsent bleibt in ihnen all das Ungreifbare, in das wir hinein treten wie in einen Raum, einen Bezirk, eine Sphäre, luftgleich, weniger gesehen als vielmehr empfunden; es verwandelt sich in (für ihn) Sichtbares. So kann ihm alles zu Farben werden: Klänge, Geräusche, der langsame Wintertag, der Geruch feuchten Laubs, der süße heiße Tee, ein leise lodernder Streit um fast nichts, der freundliche Rückenwind vor Tagen … Pflanzen, Tiere, Dinge, Orte, Menschen, Vorfälle … Von all dem bleiben ihm Farben.

Es geht nicht um Einzelheiten (er erinnert sich so gut oder schlecht wie andere), nicht um das Nach und Nach einer Schilderung, die klare Linie einer Erzählung. Vielmehr speichern seine Farben, worin das Einzelne, Geschehene eingebettet ist, was der Moment in seiner ganzen Fülle war, was ihn umgab. Alles mögliche wird ihm zur Farbe, zu Farben. Sie erhalten, zeigen, was den Augenblick, die Zeitweile (eine Minute oder weniger, eine Stunde oder mehr, den Tag, die Tage, vielleicht Wochen) ausmachte. Sie behalten besser als es Worte vermöchten, wie es war. In ihnen ist haltbar, was das Da, Damals, Gestern, Eben prägte, in ihnen ist es verdichtet: das Beiläufige und doch immer wieder Erinnerte, vorübergehende Augenblicksanblicke, mitunter etwas, das ihm nichts Auffälliges war. Was Unklares, Undeutliches mit einschließt. Es gehört zum Wesen der Erinnerung, ebenso das nicht Faßbare, Vage, Misch- und Zwischenlagen. Schließlich auch das Durchscheinen und Aufblitzen, das schwache, zarte Einstrahlen von Ergänzendem oder Widersprechendem, Abweichendem oder auch noch Hinzugehörendem, die Nebentöne (wie ein ganz leises Pochen, eine minimale Einmischung), das eigentlich fast nicht Bemerkte … all das verwandelt sich ihm zu Farben, sie bewahren es. Farbe, so flüssig, flüchtig, wie die Stimmung eines Augenblicks, wie die Verwandlungen der Welt. In den Nachfarben ist das Unhaltbare haltbar geworden. Sie bleiben ihm übrig, er vermisst nichts.

Seine Augen sehen nicht mehr als die üblichen paar tausend Nuancen. Warum sich ihm manches in Farbe verwandelte war nie eine Frage, war für ihn nichts besonderes, es ist so und war nie anders; eine schöne Eigenheit, ein Fall von Poiesis, ihm freundlich, erfreulich zugefallen. Ihm gefällt es. Manchmal hält er sich in ihnen auf, lässt sich hierhin und dahin treiben, durchstreift (mit geschlossenen Augen) seine Nachfarbengelände, spaziert dort sehend, genießt sein Bei-den-Farben-Sein.

Seine Farben: Manchmal nur ein einziger Ton. Ins Offensichtliche aber mischen sich unmerkliche Infusionen von anderem. Das zuerst Klare ist durchzogen von Einflüssen, Nebennuancen, ist in ständiger Bewegung, ist sich selbst an keiner Stelle gleich. Manches ist dunkel, schattenfarben, anderes vielfarbige Fülle, Leuchten. Ein verschwenderisches Zusammenspiel, an dem ungewöhnlichste Farben für die er keine Namen wüßte, Farben zwischen Farben teilhaben. Sie bilden ineinandergreifende, diffundierende Farbbezirke. Offen gegeneinander, nichts Gebautes, sondern Fluß und Strom. So entstehen Räume, Sphären, Zonen aus Übergängen, Öffnungen, transparenten Kammern, stellenweise nur ein Hauch, ohne Wände, sehr leicht, schwebend. All dies ist ein Echoraum des Wirklichen und zugleich ein Gebilde eigenen Rechts; mit seinen Passagen, seinen Haupt- und Nebenräumen, den Aussichten, den zahllosen Abstufungen von Transparenz und Dichte, dem Einmaligen und dem Wiederkehrenden und sich Mischen, auch den Grenzen (wenn gleich diese weich, durchlässig sind, eher gleitende Wechsel als Kanten, Schnitte), auch hat alles sein Gewicht (und ist doch meist fast schwerelos). Fragile Konstellationen, sie könnten sich noch verändern, im nächsten Moment verwandeln; festgehalten in ihnen ist, was leicht, flüchtig ist. – Einfache Wirklichkeitsfarben sind es nicht (nicht das Blau des Himmels, das Grün einer Wiese), wie aber sollten seine Farben der Realität entkommen können? (Können Farben unwirklich sein?)

Was bedeuten Farben, was sind sie für ihn? Eine besondere Antwort hätte er nicht. Dass sie ein wesentlicher Teil der Wirklichkeit seien. Und zugleich eine Immaterie eigenen Rechts, dass sie ihr eigenes, eigensinniges Spiel spielen. Farbe ist Farbe und zugleich verwoben mit allem anderen.Von sich aus ist sie nichts, was sie ist, wird sie von Fall zu Fall, bei Gelegenheit; alles kann in ihr aufgehoben sein.