Was weniger den visuellen Zugang zu den Ölgemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Wandmalereien und `Raummalereien ́ durch bemalte transparente Folien von Ines Hock erschwert, aber das Sprechen und teilweise das Verständnis von ihnen, ist, dass einige der zentralen Begriffe und Kategorien des Sprechens über diese Malerei doppeldeutig sind; sie sind doppeldeutig aber nicht von vornherein, sondern grundlegende Veränderungen der Malerei und des Verstehens von Malerei, die vor allem in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattgefunden hatten, haben diesen Begriffen und Kategorien neue Bedeutungen verliehen oder ihnen ihre Bedeutung geraubt, ohne dass diese grundlegende historische Veränderung im allgemeinen Sprachgebrauch aufgegriffen und unterschieden würde. Das betrifft besonders Kategorien und Begriffe wie `Abstrakte Malerei ́, `Ästhetik ́, `Komposition ́.
Beim Begriff der `Abstraktion ́ geht es sogar um drei historisch und theoretisch sehr unterschiedliche Konzepte. „Anstatt die übliche einfache Dualität von Realismus und Abstraktion hinzunehmen, müssen wir die zeitgenössische Malerei in mindestens vier unterschiedliche Kategorien unterteilen: 1. Repräsentation der Natur; 2. Abstraktion von der Natur; 3. Abstraktion ohne Bezugnahme auf die Natur; und 4. jener Typ von Malerei, über den ich gesprochen habe – eine Kategorie, für die kein einigermaßen zufriedenstellender Name existiert.“ (Marcia Hafif: Getting on with Painting, Art in America, April 1981, S. 138) Worauf Marcia Hafif, die wohl bedeutendste Malerin des radical painting der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, in diesem Zitat von 1981 hinwies, ist, dass schon die Unterscheidung von noch gegenständlicher, aber abstrahierender Malerei (1900-1930) und nichtgegenständlicher abstrakter Malerei, die ein neues Verständnis vom Gemälde erforderte (die Bildfläche als autonomes System pikturaler Zeichen, ab etwa 1915 bis weit in die sechziger Jahre) im Namen `abstrakte Malerei ́ nicht vollzogen wurde. Für die neue `abstrakte ́ Malerei, die nach der In-Frage-Stellung (um und nach 1960) der modernen nichtgegenständlichen Malerei entstand, existiert bis heute keine geklärte Begrifflichkeit, nicht einmal ein allgemein geteilter Name. Was sich aber sagen und zeigen lässt, ist, dass diese neue Malerei einerseits ein neues Verständnis davon, was ein Gemälde ist, und andererseits neue Verfahrensweisen erforderte und hervorbrachte.
Um 1960 war die radikal abstrakte Malerei, die Leitgattung der Moderne, in eine grundlegende Krise geraten: die Gewissheit, dass nichtgegenständliche Gemälde Sinn transportieren, dass sie wie Schriften Träger von Bedeutung sind, Bedeutung durch die Komposition rein visueller Elemente oder durch lesbare und nachvollziehbare Spuren der Artikulation bzw. Expression von Subjektivität übermitteln, wurde grundlegend in Frage gestellt.
Was aber bleibt von Malerei, wenn sie keine Gegenstände mehr repräsentiert, aber auch keine Subjektivität mehr durch Komposition oder Expression zu lesen oder nachzuvollziehen gibt? Wenn sie nicht mehr idealistisch ist (im Sinn von mentalem Gehalt, von Ideen)?
Die erste, tautologische und, wie fast alle Lösungen in der Kunst, widersprüchliche Antwort auf diese Krise war die Denunziation aller ästhetischen, subjektiven und kompositionellen Aspekte und Ebenen der Malerei: was bleibt, war ihre wörtliche Materialität, ihre Realität als Träger und Auftrag. Die Spannung zwischen der sinnerfüllten, ästhetischen Ebene und der bloß materiellen, sinnleeren Ebene von Gemälden implodierte (so bei Stella oder Ryman seit den sechziger Jahren). Das Gemälde ist demzufolge nichts als Materie auf einem Träger: „You see what you see“.
Was sich dieser tautologischen Austreibung der ästhetischen Differenz aber entzog und aktiv entgegensetzte, war die Farbe, besonders ein komplexer Einsatz von Farbe. Denn auch, wenn Farbe zuerst nur als Materie gesehen und verstanden wird, als auf einen Träger aufgetragene, in Öl oder Wasser gelöste Farbmasse, zeigt sich das eigentümliche Ereignis, dass sich in der Wahrnehmung ein spezifisches Umschlagen ereignen kann: die Farbmaterie, die als Bestandteil der Welt der Körper optisch erfasst und identifiziert, also wiedererkannt wird, schlägt für den Betrachter in ein Phänomen um, das zu einer anderen, der rein visuellen Welt der Wahrnehmung gehört; sie schlägt von der materielle, räumliche Körper identifizierenden Wahrnehmung in eine Wahrnehmung um, die Farbe qualitativ als Phänomen im strengen Sinn des Wortes, als Erscheinung, zu sehen bekommt. Farbe als Farbwert, als visuelle Qualität, wird nicht mehr als messbarer Körper, innerhalb der materiellen, dreidimensionalen Welt wahrgenommen, sondern tritt für eine rein visuelle Wahrnehmung in einer eigenen, qualitativ-sensuellen Wirklichkeit auf. Diese artikuliert sich zum einen darin, dass die Farbfläche nicht in einem messbaren Abstand vom Sehenden und als messbare Oberfläche fassbar wird, sondern eine dichte und quasi flimmernde Art von farbigem Flächenraum erschafft, der sich nicht in die messbare dritte Dimension erstreckt, sondern als Farbraum oder Farbleuchten erscheint; und zum anderen erzeugen verschiedene Farbwerte ein qualitatives Spiel der Unterschiede und Beziehungen dieser Farbwerte, das sich nicht messen oder quantifizieren lässt, sondern Intentitäten und Qualitäten auftauchen sieht. Die so entstehende neue Wahrnehmung ist eine ästhetische Wahrnehmung, eine Aisthesis, im strengen, antiken Sinn des Wortes: eine Wahrnehmung, die sich selbst wahrnimmt, eine Wahrnehmung, die sich selbst und das sensuell Wahrgenommene sich bewusst macht und reflektiert. Auch diese Ästhetik würde einen eigenen, neuen Namen erfordern: sie richtet sich nicht mehr auf sinnlich vermittelte, von gegenständlichen Trägern transportierte Bedeutungen oder Körper, sondern auf die sensuelle und qualitative Wirklichkeit (visuelle Wirksamkeit, Gegebenheit, Phänomenalität) der Farbwerte und ihrer Beziehungen (das gilt nicht nur für Farbflächen, sondern auch für Linien in der Bildfläche). In soweit ist diese visuell-sensuelle Ästhetik auch sprachlos: sie arbeitet nicht mit Begriffen, sondern mit sensuellen Verweisen und Hinweisen. So haben beispielsweise nur die vier Grundfarben (rot, gelb, grün, blau) Namen, die wenigstens zu einem gewissen Grad und innerhalb eines Systems der Farben begriffsähnlich sind; alle anderen Farben haben Namen, die durch einen Verweis auf Gegenstände oder Materialien, die diesen Farbton aufweisen, definiert sind.
Auch Farbflächen, die als Farbwert oder Farbqualität gesehen werden, werden im ersten Moment materiell, als Farbmaterie auf einem Träger wahrgenommen. Doch im Übergang in die visuell-ästhetische Wahrnehmung verlässt der Blick oder das Bewusstsein die Ebene der begrifflichen Identifikation, des optischen Wiedererkennens als Wahrnehmungsgegenstände, als Objekte; sie werden quasi neu, quasi zum ersten Mal gesehen. So bildet sich ein Sehendes Sehen aus, ein Sehen, das auch auf sich selbst blickt, sich selbst wahrnimmt, wie es zuerst von Konrad Fiedler, später von Max Imdahl und Gottfried Boehm erforscht worden ist. Und da Gemälde dann zwar als eine Art Fläche, nämlich als qualitative Bildfläche, aber nicht als zweidimensionale Oberfläche im Raum gesehen werden, da sie eine eigene Art von sich nach hinten, in eine nichtdefinierbare Bildtiefe, oder sogar sich nach vorn, als eine Art Leuchten, erstreckenden Farbraum oder Farblichtraum zu sehen geben, gerät die Fläche eines Gemäldes, die materiell nur eine zweidimensionale Oberfläche ist, durch den Auftrag unterschiedlicher Farben in eine starke visuelle Unruhe oder Bewegung: die unterschiedlichen Farben treten vor und zurück, erzeugen unterschiedliche dichte und unterschiedlich tiefe Farbräume, und beeinflussen einander sowohl in ihrem Farbwert als auch in ihrer Raumwirkung; jedes Farbfeld scheint seine eigene räumliche Lage und Tiefe in der Bildfläche zu besitzen, so dass der Blick nicht mehr die ganze Bildfläche als Einheit überblicken und erfassen kann, sondern sich von Farbfeld zu Farbfeld und von Farbraum zu Farbraum vorantasten muss.
Sehr viele der Aquarelle und Ölgemälde von Ines Hock erforschen dieses komplexe Spiel der Differenzen des Farbwertes und der Farbräumlichkeit: kleine, ähnlich große, fast rechteckige querformatige Farbfelder reihen sich, durch den weißen Träger getrennt, nebeneinander, bilden eine Art von Zeilen, die untereinander folgen und die Bildfläche bedecken. Die Ränder bleiben freigelassen, so dass sich ein farbiges Gesamtfeld der Malerei ergibt, auch wenn dessen Kanten etwas unregelmäßig sind. Die einzelnen Farbfelder unterscheiden sich, oft minimal, in ihrem Farbwert. Das liegt bei den früheren Arbeiten daran, dass die Felder, in den Aquarellen wie in der Ölmalerei, durch eine Vielheit von einander überlagernden transparenten Schichten entstanden sind, so dass die jeweils resultierende Farbe schon in ihrer Schichtung sehr komplex ist. Ebenso differieren sie, meist nur wenig, in ihrer Größe, im Verlauf ihrer Kanten, in ihrem Format, in der Dichte der Farbe, in der Helligkeit der Farbe.
Ab etwa 2000 schichtete Ines Hock kaum noch, sondern setzte Farbflächen eng nebeneinander, teilweise einander berührend. Diese Farbflächen beziehen sich stärker auf den umgebenden Raum, sie treten auch als Wandmalerei auf und besonders in bemalten transparenten Folien, die durch ihre Transparenz für den Blick ebenso wie für das Licht auch Überlagerungen von lichtprojizierten Farben im Raum erzeugen.
Die Gemälde von Ines Hock sind einerseits auf den ersten Blick einfach wahrzunehmen: sie vermeiden die meisten pikturalen Kategorien, den fiktiven Bildraum ebenso wie die auktoriale Komposition, und nähern sich einer Art von farbigem Ornament an. Diese Reduktion der Kategorien der Malerei aber erlaubt es Ines Hock, die verbleibenden Kategorien sowohl der Malerei als auch der Wahrnehmung komplexer und differentieller werden zu lassen. Das gilt ebenso für die Farbe wie für den Einsatz der Hand: da in den einzelnen Farbfeldern die Spur des Auftrags mit dem Pinsel sichtbar ist – wenn auch ohne jede expressive oder gestische Lesbarkeit oder leibliche Nachvollziehbarkeit –, und da die Farbfelder und -schichten in ihrer Materialität als aufgetragene Schichten wahrgenommen werden können, entsteht für den Betrachter ein Spiel von Übergängen, das teilweise sogar miteinander unvereinbare Wahrnehmungsweisen oder Ordnungen ins Spiel bringt. Die materielle Farbe geht in visuelle und qualitative Farbwerte über, die ihrerseits die Immaterialität eines farbigen Leuchtens annehmen können. Die Tätigkeit der Hand, die die Farbe aufgetragen hat, wird als weitgehend neutraler Pinselzug sichtbar, der sich als leere oder nicht lesbare, zeichenfreie Spur der Einschreibung zeigt.
In einer Reihe von Aquarellen ist, stärker als in den Ölgemälden, die Palette auf einen engen Bereich verwandter Töne beschränkt, die zudem teilweise, aufgrund der starken Verdünnung der aufgetragenen Farbe, optisch in Nichtfarben übergehen, als materielle Verschmutzungen oder Tönungen des Papiers erscheinen (wodurch sie wieder zumindest partiell Gegenstände der identifizierenden, begrifflichen Wahrnehmung werden); oder die Farbe wird reduziert auf graue, fast farblose, transparente Töne. In den Ölgemälden wiederum sind einzelne Farbfelder so aufgehellt oder verdunkelt, dass sie ihre Farbigkeit tendenziell im Weiß der Helligkeit oder im Schwarz der Dunkelheit verlieren.
Doch da die einzelnen Farbfelder voneinander abweichen, sich im Farbton (aber auch in ihrer jeweiligen Position, durch ihr Format, ihre Größe, den Verlauf ihrer Kanten) unterscheiden, wird der Blick des Betrachters dazu herausgefordert, sich nicht auf das Identifizieren von materiellen, körperlichen und räumlichen Wahrnehmungsobjekten zu kaprizieren, sondern sich, jenseits des Wiedererkennens und des begrifflichen Erfassens, auf das Spiel der visuellen Unterschiede einzulassen; sein Blick wird nicht zum Herrn des Gesehenen, sondern lässt sich darauf ein, sich nach allen Seiten voran zu tasten, sich Differenzen zu sehen geben zu lassen. Die spezifische visuelle Lust solchen Entdeckens und Bejahens von visuellen Differenzen unterscheidet
sich tiefgehend vom Vergnügen an der Herrschaft des Blicks über das Gesehene und Begriffene in der idealistischen Moderne.
Das Spiel der Differenzen der Farbe und der Helligkeit zeigt auch, dass diese Gemälde nicht einfach Anwendungen eines Verfahrens sind, Ausführungen eines Prinzips, sondern eine ästhetisch wählende und entscheidende Subjektivität ins Spiel bringen. Die verschiedenen Abweichungen und Unterschiede sind nicht zufällig oder kontingent entstanden, sondern im Prozess der Entstehung gewählt worden. Die Wahl der Farben, die zwar nicht kompositionelle, aber mit Entscheidungen verknüpfte Wahl der Farben und Anordnung der Farbfelder sowie die zwar reduzierte, aber anwesende Sichtbarkeit des Striches machen spürbar, wie ein malendes oder zeichnendes Subjekt im Prozess tätig geworden ist und ästhetische Entscheidungen gefällt hat.
Damit kommt eine weitere grundlegende Veränderung der Malerei ins Spiel: während Komposition in der Moderne, die besonders in der nichtgegenständlichen Kunst zum zentralen Kriterium geworden war, immer so verstanden worden ist, dass die unterschiedlichen optischen Einzelteile und Elemente sich in einer Totalität organisieren, in einer Einheit, in der alles mit allem in Beziehung steht, wobei eine übergeordnete Instanz den Zusammenhang sichert und regelt; und während nach der Destruktion der Komposition als Herrschaft des Subjekts über den Prozess und das Werk vor allem Verfahren eingesetzt wurden, die durch Repetition, durch die immergleiche Wiederholung von Elementen oder Einsatzweisen den Gemälden alle Komposition austrieben (ein Grundprinzip der Minimal Art und der Minimal Malerei); so werden jetzt in dieser neuen Malerei komplexere, iterative und rekursive Verfahrensweisen verwendet, die eine andere Art von Komposition (von nicht vorgängiger, sondern reaktiver und iterativer Komposition) zeigen. Iterative Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinem vorgegebenen Prinzip gehorchen, dass sich die einzelnen Schritte nicht einfach aus einer Regel oder Formel ableiten lassen; jeder Schritt ergibt sich erst aus dem vorhergehenden Schritt oder aus mehreren vorhergehenden Schritten. Das berühmteste Beispiel ist die Fibonacci-Reihe, in der jede Zahl sich aus der Addition der beiden vorhergehenden Zahlen ergibt; indem sich das Verfahren immer auf sich selbst zurückwendet, ist die Fibonacci-Reihe rekursiv.
Auch diese neue `kompositionelle ́ Verfahrensweise würde einen neuen Namen benötigen: sie ist keine Komposition ausgehend von einer übergeordneten Einheit, sondern Komposition als ein schrittweises, in jedem Schritt neue Entscheidungen erforderndes Fortschreiten. In den Gemälden und Zeichnungen von Ines Hock tritt dieses schrittweise Verfahren, das sich auf die schon existierenden Einschreibungen, Linien und Farbflächen bezieht, von denen es sich in immer neuen Einsätzen radikal oder minimal unterscheidet, in reinster Form vor allem in vielen Zeichnungen auf. Die Linien, die in das Papier eingeschrieben werden, sind einander ähnlich, zeigen minimale, aber offensichtliche Unterschiede; da sie so gesetzt werden, dass sie iterativ und rekursiv neben oder manchmal auch zwischen schon existierende ähnliche Linien gesetzt werden, erzeugen sie ein Feld von Differenzen in der Fläche, das zwar durch Ähnlichkeit geregelt zu sein scheint, aber immer neue Entscheidungen in der Fläche erfordert, ohne dass ein vorhergehender Plan, ein Entwurf oder eine mentale Skizze existierte.
Um die so entstandenen Flächen ästhetisch zu sehen, sehend zu sehen, muss der Blick des sehenden Subjekts sehr aktiv werden, in die Eigenwelt der differenzierenden ästhetischen Wahrnehmung eintreten; er muss sich der sensuellen Qualitäten und Intensitäten bewusst werden, um die Vielheit der oft minimalen Differenzen der Farbwerte, der Farbschichtungen (auch in den früheren pseudo-monochromatischen Ölgemälden und in vielen Aquarellen von Ines Hock), der Farbwerte der nebeneinanderliegenden Farbfelder und der Linienführungen in den Zeichnungen auffassen zu können. Das Bewusstwerden visueller Differenzen führt zu keinem Erfassen, keinem Begriff und keinem optischen Besitzen; diese begriffslose, quasi sprachlose (aber nicht bewusstlose, sondern hochbewusste, gespannte) Wahrnehmung selbst erweist sich als ein selbstreflexiver und lustvoller Prozess, dessen Lust in gleicher Weise in der Wahrnehmung der visuellen Differenzen, der Bewusstwerdung dieser Differenzen und der Reflexion dieses Wahrnehmungsprozesses liegt. Prof. Dr. phil. Johannes Meinhardt