| Farbe Pur, Museum St. Wendel, 2005
Betrachtet man die Zeichnungen von Ines Hock, so vermitteln sie eine ähnlich fragile Gestimmtheit und meditative Atmosphäre, die auch ihre Malerei charakterisiert. Zarte, horizontale und gelegentlich auch vertikale Bleistiftstriche überziehen das Papier und lassen mal verdichtete, mal freiere Partien entstehen, die unendlich fortsetzbar scheinen. Das, was das Auge wahrnimmt, bleibt jedoch so flüchtig und zurückhaltend, als würden die Linien in einem steten Wechsel entschwinden und im nächsten Augenblick wieder auftauchen. So bleiben ihre Zeichnungen rätselhaft und indifferent, da jeder Versuch, sie eindeutig begrifflich zu fassen, ins Leere läuft.
In Bezug auf die Bildsprache der Zeichnungen treten ebenfalls Analogien zur Malerei zu Tage. Während ihre frühen Zeichnungen überwiegend aus klaren und kräftigen Linien bestehen, die gelegentlich sogar gebogen und gekrümmt werden, zeigen die späteren Werke zumeist eine flächige Verschränkung von unzähligen Strichlagen und komplexen Liniengefügen. Ihre Arbeitsweise ähnelt hierbei dem Vorgang des Schreibens: Linien werden linear auf der Fläche organisiert und fügen sich zu horizontalen bzw. gitterartigen Strukturen. Anders als beim Schreiben verleiht Ines Hock der Eigenfarbigkeit des Blattes jedoch eine besondere Bedeutung. Durch das bewusste Freilassen einzelner Partien des Papiers entsteht ein augenfälliger Kontrast zwischen dem hellen Ton des Grundes und den dunkleren Bleistiftspuren, der sich als zeichnerisches Pendant für Licht und Schatten lesen lässt. In dieser differenzierten Verzahnung von Linie und Grund und in eben dieser Präsentation der hellen, vom Zeichenstift unberührten Flächen wird – mit zeichnerischen Mitteln – Helligkeit und Leichtigkeit visualisiert.
Hieran erweist sich erneut, dass sich Zeichnung und Malerei bzw. Malerei und Zeichnung im Werk von Ines Hock strukturell entsprechen. In welcher Beziehung aber stehen diese beiden Medien? Wie können zwei so grundverschiedene Ausdrucksformen – hier ausschließlich Farbe, dort ausschließlich Linie – so verblüffend verwandte Effekte hervorrufen?
Folgt man der Aussage von Giorgio Vasari, ist die »Zeichnung (disegno) der Vater unserer drei Künste« und somit die Grundlage für Architektur, Skulptur und Malerei. Er interpretierte das Zeichnen zum einen als praktische Darstellung, als Technik, und zum anderen als intellektuelles Vermögen im Sinne der »anschaulichen Klarlegung der Vorstellung«. Diese beiden, bei Vasari noch ungetrennten Modi des Zeichnens, wurden in der Kunsttheorie wenig später in eine innere und eine äußere Zeichnung (disegno interno und disegno esterno) geschieden. Die innere Zeichnung repräsentiert das geistige Konstrukt des auszuführenden Kunstwerks, den Ursprung und die eigentliche künstlerische Vision. Die äußere Zeichnung lässt sich demgegenüber als konkrete Umsetzung bezeichnen, in der das jeweilige Konzept anschaulich Gestalt gewinnt.
Wendet man nun Begriff des disegno interno auf das zeichnerische Werk von Ines Hock an, so wird die Tragweite ihrer Papierarbeiten deutlich. In den Zeichnungen ist all das formuliert und enthalten, was Ines Hock in ihrer Malerei variationsreich aufgreift und umsetzt. Licht- und Schattenwirkung, die rhythmische Flächenbehandlung und die scheinbar mühelos erzielte, harmonisch und atmosphärisch dichte Gesamtgestaltung ihrer Kunst nehmen hier ihren Ursprung. Insofern kann man ihre Zeichnungen als geistiges Substrat ihrer gesamten künstlerischen Arbeit bezeichnen.